Die Geschichte des Dorfes Wissel

Auszüge aus dem Buch „Straßennamen erzählen Geschichte(n)“ von Wilhelm Miesen

Die Siedlungsentwicklung in der Rheinniederung

Die Ursprünge Wissels entstehen

Mit der Stabilisierung der politischen Verhältnisse im 6. Jahrhundert wurde der Niederrhein wieder dichter besiedelt. Höfe mit ringsum liegenden Flächen entstanden. In den Niederrungen ermöglichte erst die Eindeichung eine landwirtschaftliche Nutzung. Die nicht gerodeten Wälder wurden als Nahrungsquelle für das Vieh genutzt (Hudewälder).

Nicht selten wurden die Höfe und Siedlungen vom Rheinhochwasser vernichtet.

Ähnlich haben wir uns die Entstehung unseres Dorfes vorzustellen.

Zunächst errichteten die Menschen des frühen Mittelalters auf höher gelegenen Arealen Hofanlagen, um die sie Rodungen vornahmen. Diese Flächen nutzten sie zur Betreibung von Landwirtschaft. Das Vieh ernährte sich überwiegend von Laub und Waldfrüchten sowie von Weidegräsern. Die Haustiere lebten mit den Menschen in einem Haus, dem germanischen Lang-haus. Auch heute ist das niederrheinische Wohn- und Stallhaus teilweise als Langhaus oder in einer luxuriöseren Bauweise als T-Haus noch verbreitet.

Auf einer großen, erhöhten, zu dieser Zeit noch rechtsrheinischen Ward (vom Wasser umgebenes Gelände) entwickelte sich eine dichtere Besiedlung. Die Grafen von Cleve beanspruchten das Territorium für sich. Zur Sicherung Ihres fruchtbaren Gebietes ließen sie eine Burg bauen, auf die sie die ihnen lehnspflichtigen „Herren von Wissel“ ansiedelten, die wiederum einen Großteil der Bauern in der Region zu unfreien Untertanen machten.

Durch Verlagerung des Rheinstroms wurde diese Ward – umgeben vom alten Rheinstrom (der Kalflak) und dem neuen Rheinverlauf – zu einer Insel.

Noch im 12. Jahrhundert wird sie als Insel Wiscelo bezeichnet.

Die Gründung des Wisseler Kollegiatstifts

Die Christianisierung der niederrheinischen Landbevölkerung im 8. Jahrhundert.

Nach dem Abzug der Römer setzte sich die Verbreitung des von ihnen an den Niederrhein gebrachten christlichen Glaubens nicht kontinuierlich fort.

Erst durch die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig um das Jahr 500 breitete sich der katholische Glauben allmählich aus. Große Erfolge in der Bekehrungsarbeit erzielten die angelsächsischen Missionare, von denen der heilige Willibrord einer der bekanntesten ist.

Dieser, oder einer seiner Begleiter, soll auch auf dem Areal des heutigen Wissel im 8. Jahrhundert eine Holzkapelle errichtet haben, die er evtl. damals bereits dem hl. Clemens Romanus widmete. Dieses Bauwerk war nicht nur Sinnbild der Verbreitung des Christentums sondern stellte zugleich einen zentralen Punkt dar, um den sich allmählich eine Siedlung entwickelte.

Im Jahre 825 sollen der Überlieferung nach der Graf Eberhardt und seine Frau Bertha gemeinsam mit ihrem Sohn Luthard ein Kanoniker-Stift in Wissel gegründet haben.

Zu den Aufgaben der weltgeistlichen Mönche gehörte neben der Verbreitung des katholischen Glaubens das Land kultivieren zu lassen und Höfe zu gründen. Die dem Stift unterstellten Bauern hatten aus den erwirtschafteten Erträgen den so genannten Zehnt an die Chorherren abzuführen.

Nachdem die Holzkapelle in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts durch Normannenkrieger oder von einer Hochflut zerstört wurde, entstand die erste Kirche aus Tuffstein.

Die Chorherren des von Klever Grafen installierten Kollegiatstiftes prägten über viele Jahrhunderte hinweg die Geschicke des Dorfes. In der Mitte des 12. Jahrhunderts fällt der Bau der heute noch bestehenden und in wesentlichen Teilen unveränderten romanischen Basilika durch die Grafen von Cleve. Diese besaßen als Stiftsherren das Recht der Besetzung der Propstei und der Kanonikate. Das Kapitel bestand aus dem Propst, dem Dechanten, dem Scholaster und elf, später zwölf Kanonikern. Die Weltgeistlichen bewohnten eigene Häuser, die rings um den von Mauern umgebenen Kirchplatz angeordnet waren. Bis zur Säkularisierung durch französische Besatzungstruppen im Jahre 1802 prägten die Kanoniker maßgeblich die Geschichte des Dorfes und machten Wissel zu einer bedeutenden Ortschaft. Von der Mitte des 14. Jh. bis zum Ende des 18. Jh. war Wissel Wallfahrtsort.

[In dieser Zeit war Wissel ein viel besuchter Wallfahrtsort. Es wurde nämlich in unserer Kirche ein der consecrierten Hostie wunderbar entquollener Tropfen Blutes unseres Herrn aufbewahrt und verehrt. Eine Zeitlang war derselbe verborgen gewesen, bis er glücklicher Weise „zum Heile und zur Wohlfahrt vieler“ wiedergefunden wurde. Eine Pergamentrolle des Pfarrarchives erzählt uns über die Auffindung des h. Blutes nach den Berichten eines ungenannten Ordensmannes und des 1449 verstorbenen Karthustianer-Paters Albert von Arnheim ungefähr Folgendes: “In der Kirche befand sich ein altes, großes Cruzifixbild, welches sehr beschädigt und deshalb in einem Seitenwinkel hingestellt war. Als nun Jemand voll Andacht dasselbe betrachtete, empfand er großes Mitleid mit dem Heilande und konnte das so entehrte Bild ohne heftigen inneren Schmerz nicht anschauen. Deshalb wandte er sich mit Bitten und Klagen an die Canoniker und setzte es endlich durch, daß jenes Kreuz von Neuem bemalt und an einem geziemenden Platze aufgerichtet wurde. Da es aber an`s Licht gebracht und genauer betrachtet wurde, fand man im Haupte des Christus eine kleine Büchse und ein Blatt mit der Aufschrift, daß in dieser Büchse sich ein dem allerheiligsten Sakrament wunderbarer Weise entquollener Tropfen Blutes befinde. Nach dieser Entdeckung nahm man das h. Blut mit großer Ehrfurcht heraus und brachte es mit gebührender Andacht und Dank gegen Gott in eine von zwei Engeln gehaltene Monstranz, wie sie bis heute von allen gesehen und verehrt wird. Seit diesem Tage, fügt der Nachrichtenerstatter hinzu, sind dort in Wissel so viele Wunder zur Verherrlichung des allmächtigen Gottes geschehen und geschehen noch, daß man sie nicht zu zählen vermag. Krankheiten aller Art sind durch dieses h. Blut geheilt, wie ich vielfach gehört, gesehen und gelesen habe, die aber der Kürze wegen hier nicht aufgezählt sind.“ Bis in das vorige Jahrhundert soll das h. Blut hier von vielen Pilgern verehrt, zur Zeit der Französischen Invasion aber verborgen und wahrscheinlich in einen Pfeiler der Kirche eingemauert worden sein. Hier suchte man bei der letzten Restauration 1870 eifrig nach dem verlorenen Schatze, aber alle Bemühungen blieben ohne Erfolg].

 Die Herren Ritter von Wissel

 Im 11. Jahrhundert errichteten die Grafen von Kleve zum Schutz und zur Bewirtschaftung ihrer Ländereien auf der Rheininsel Wiscelo eine Burg, umgeben von Gräben und Wällen. Die Festung und ihr damaliger Besitzer Theodorus von Wischell werden erstmals im Jahre 1070 erwähnt.

Zum Schutz des Anwesens und des Dorfes wurde in jener Zeit um den Ort einer der ersten Ringdeiche des Niederrheins angelegt. Eine Burg der Klever Grafen in Wissel ist urkundlich mit deren Zerstörung durch Kölns Bürger im Jahre 1115 belegt. Diese Vernichtung steht im Zusammenhang mit einer Fehde  des  Kölner Erzbischofs  gegen Kaiser Heinrich den V., auf dessen Seite der damalige Graf von Cleve, Dietrich III., kämpfte. Weitere Namen der Herren von Wissel finden im Jahre 1144 urkundliche Erwähnung. Die Ritter Erenbertus von Wiscele und sein Sohn Diedrich werden als Wohltäter des Klosters Fürstenberg bei Xanten genannt.

Einen Eintag finden wir auch in der ältesten erhaltenen Urkunde der Stadt Kalkar aus dem Jahr 1246. In dieser wird eine Schenkung zweier Brüder von Wissel, die zu diesem Zeitpunkt in Hanselaer lebten, an das damalige Kloster Bethlehem bei Doetichem beurkundet.

[„Wir verkünden demnach allen, Gegenwärtigen und Zukünftigen, daß die Brüder von Wissel, nämlich Dietrich (Theod.) und Stephan, mit einem Besitz im Kirchspiel Zeddam, im Dorf genannt Vincwick, vor uns, auch für alle ihre späteren Erben, öffentlich aus freiem Willen erklären, daß sie diesen ihren Besitz in die Hände des Propstes und der Brüder von Bethlehem in Form eines Verkaufs übertragen so, daß die Kirche von Bethlehem diese Güter, bebaut oder unbebaut, ruhig und als freies Erbe in Ewigkeit nach Erbrecht besitzen soll, was die genannten Brüder und ihre Erben als so geschehen anerkennen“ (Werner Kock,  Kalender für das Kleverland1993 – S. 161).]

Die Herren von Wissel waren als lehnspflichtige Dienstmannen den Grafen von Kleve sehr verbunden. Im 11/12. Jahrhundert zählten sie zu den einflussreichsten Geschlechtern des Niederrheins.

[Die Herren von Wissel – Wiesele, Wischele, Wisschel – führten in ihrem Siegel zwei offene rothe Flügel (Wische, Wischel) auf silbernem Grund, die auf dem Helm, der eine roth, der andere silbern, sich wiederholen….. Die v. Wissel finden wir frühzeitig sesshaft in Hanselaer, Calcar, Grieth, Keppeln, Cleve und Kervenheim und belehnt mit Kemnade, Wardenstein, Klapperskule, der Burg zu Grieth, auf Monterberg und in Kervenheim.]

Nach der Zerstörung der Burg der Herren von Wissel im Jahr 1115 wurde diese nicht wieder in der ursprünglichen Form aufgebaut.

Der Überlieferung nach sollen die Trümmer zur Errichtung der Basilika verwendet worden sein. An deren Stelle wurde der heute noch bestehende Wohnsitz der Adelsfamilie von Wissel errichtet. Ein Adelshof, der als eine „vom Landesherren anerkannte Burg“ bezeichnet werden kann.

[Als erstes urkundlich erwähnt wurde das Dienstmannslehen von Wilhelm von Wissel im Jahre 1379 .]

Die Adelsfamilie von Wissel   starb um 1600 aus. Das im 15. Jahrhundert neu errichtete Haus Kemnade ging in das Besitztum anderer Adelsfamilien über. Im 17. Jahrhundert waren die Besitzer die Freiherren von Spaen, denen auch das Schloss Moyland gehörte. Unter deren Herrschaft erhielt 1672 das Burghaus einen Anbau, der nach seinem Umbau im spätgotischen Stil im Jahre 1877 durch Heinrich Philipp van Elsbergen in Grundzügen der Fassade des Kalkarer Rathauses ähnelt.

1713 ersteigerte sich Gerhard Schleuffert das Anwesen, welches seine Witwe 1728  an Johann van Elsbergen, genannt von Wylich, vererbte. Die Familie war dem König  Friederich Wilhelm I. von Preußen lehnspflichtig. Bis heute ist es im Besitz der Familie van Elsbergen. Seit 2011 steht das Gebäude leer und wartet auf seine neuen Herren.

Wissel das Tabakdorf

Abb. 189

Obwohl der kommerzielle Anbau von Tabakpflanzen in Wissel im Jahr 1959 aufgegeben wurde, ist er in unserem Dorf nicht in Vergessenheit geraten.

Einige Heimatfreunde pflegen bis heute den Anbau einiger Dutzend Pflanzen, mit denen sie ihre Gärten zieren und somit eine alte Tradition bewahren. Die Ernte präsentieren sie dann stolz im Herbst beim alljährlichen Erntedankumzug. Während des ganzen Jahres können Besucher die Tabakausstellung im Stiftsmuseum bewundern.

Zwischen der Basilika, der Mühle und der Düne nimmt der Wisseler Rico eine zentrale Position im Dorfwappen ein. Schließlich war er es, der das Dorf weit über seine Grenzen hinaus bekannt machte. „Veritable Tabac de Wissel“ (Echter Tabak aus Wissel) wurde noch bis zum Ersten Weltkrieg in Paris verkauft (Abb.189).  Mehr als zwei Jahrhunderte lang war der Anbau von Tabakpflanzen eine bedeutende Einnahmequelle für die Wisseler Bevölkerung. Viele konnten mit dem Verkauf der Blätter ihre geringen Einkünfte aus der bescheidenen Landwirtschaft aufstocken.

Wann die Wisseler mit dem Anbau des nikotinhaltigen Nachtschattengewächses begannen, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Um 1700  gelangte die von Kolumbus von Amerika nach Europa importierte Pflanze mit Rheinschiffern von Utrecht aus in unsere rechtsrheinische Region bis Emmerich. Aus dem Süden brachten Pfälzer Kolonisten, die seit 1741 in der Gocher Heide in den Dörfern Pfalzdorf, Louisendorf und Neulouisendorf siedelten, die Fertigkeiten des Tabakanbaus aus ihrer Heimat mit. Nach und nach entwickelte sich Wissel zum Hauptanbau-gebiet im Kleverland. Der sandig lehmige Boden der Rheininsel bot beste Voraussetzungen für die mannshohen Pflanzen. Mitte des 18. Jahrhunderts blühte der Anbau des „rot blühenden Virginia“ richtig auf. 1859 wurden allein in Rees 596 Morgen Land zum Anbau verwendet, in Kleve gar 676. Die Spitze bildete Wissel. 1000 Einwohner -1000 Zentner Tabak lautete lange Zeit die Faustformel. Die Einnahmen brachten dem Ort Wohlstand und trugen dazu bei, dass die Basilika nach der Säkularisierung und Auflösung des Kanonikerstiftes durch die Commissare Napoleons im Jahre 1802 nicht dem Verfall Preis gegeben war.

Pastor Smits beschrieb die Wisseler und ihren Tabakanbau in seiner Chronik.   (Übersetzung) [Im Umkreis einer halben Stunde ist das Dorf von Weide und Ackerland umgeben. Sein Zentrum ist Sand. Doch im 18. Jahrhundert wurde er zum reichsten Tabakboden. Sonderbare Eigenschaften des Bodens, dass die Qualität seines Ertrages alle anderen berühmten übertrifft an Aussehen, Geschmack, Aroma, Feinheit und Preis. Ein sehr reiches Produkt! Für die Einwohner, Handwerker und Tagelöhner der halbe Lebensunterhalt. Ihre Gemüsegärten, der schlechte Sandgrund, ist sein Boden.

Im Jahrhundertschnitt bringt bei guter Behandlung die Quadratrute 20 Sprossen reinen Ertrag. Wissel hat zu meiner Zeit für seine Pflanzer alles in allem eine jährliche Einnahme 15.000 preußische Taler – 1845. Unter Napoleon war der Wisseler Tabak der erste im französischen Kaiserreich. Er wurde in 4 Klassen sortiert wie folgt: Die 4. Klasse kostete 1 Franc, die 3. Klasse kostete 2 Franc, die 2. Klasse kostete 3 Franc die 1. Klasse kostete 4 Franc er führte dann den Titel: Wisseler Rico (Perau Seite 110).]

Auch ein Jahrhundert später war die Bedeutung des Tabakanbaugebietes Wissel unverändert hoch. Im Jahr 1936 mussten die Tabakanbauer des Niederrheins ihre Anbauflächen der staatlichen Landwirtschaftsschule und Wirtschaftsberatungsstelle Schmitthausen in Kleve melden. In dem Jahr ließen sich 115 Wisseler Tabakanbauer mit einer Gesamtfläche von 18,4 ha registrieren. 1941 wurde für das Anbaugebiet Wissel eine Fläche von 16,32 ha genehmigt. Die zweitgrößte Fläche der insgesamt 28 Anbaugemeinden mit 33,005 ha Anbaufläche meldete Asperden mit 4,32 ha, gefolgt von Kranenburg/Nütterden mit 2,35 ha, Altkalkar mit 2,3 ha, Till Moyland mit 1,12 ha und Marienbaum mit 1,1 ha. Alle weiteren Gemeinden bewirtschafteten weniger als 1 ha. Doch vor dem Lohn stand die Arbeit. Der Anbau der empfindlichen Pflanzen war sehr arbeitsintensiv. Im März säten die Tabakbauern den teils in alten Holzschuhen vorgekeimten Samen in zuvor mit Pferde oder Schafsmist und einer Sanddeckschicht hergerichtete Mistbeete aus. Im Mai nach den letzten Nachtfrösten – den Eisheiligen – pflanzten sie die jungen Setzlinge auf die gedüngten und gut gelockerten Felder. An deren  Windseiten errichteten die Bauern ein Spalier von Bohnenstangen. Die Ranke bildete eine Schutzwand und verhinderte das Reißen der empfindlichen Blätter durch Windeinwirkung. Eine Gefahr war aber immer der Hagelschlag. Er konnte eine ganze Ernte vernichten. Nach dem Auspflanzen, so sagt ein altes Sprichwort, wollte der Tabak täglich seinen Herrn sehen. Unkraut jäten, Boden locker halten, Erde anhäufeln, Seitentriebe ausgeizen, Blütenausbrechen – damit die Kraft der Pflanze in die Blätter fließt – und schließlich die Ernte.

Die vollzog sich in drei bis vier Perioden, in denen die Blätter in Abständen von jeweils ca. zwei Wochen von unten nach oben geerntet wurden. Zunächst brach man das   Erdgut oder Grumpen, gefolgt vom Sandgut und zuletzt der besten Qualität, dem Bestgut. Die schmalen, kleinen oberen Blätter, die Dieve, wurden als minderwertige Ware verkauft oder zum Eigenbedarf zu Pfeifentabak verarbeitet.

Nach dem Ernten der Blätter wurde ihnen mit einem speziellen kleinen Messer im unteren Drittel die Mittelrippe der Länge nach etwa 15 cm eingeschlitzt, um sie dann auf dünne, einseitig zugespitzte Holzstäbe, den Spillen, paarweise – Unterblatt an Unterblatt –  aufzureihen. Anschließend hängte man den Tabak an diesen Spillen in gut durchlüftete Schuppen oder Scheunen zum Trocknen (siehe auch Spillenweg).

Meine Großeltern Dorothea und Johann Terhorst gehörten zu den Tabakpflanzern im Neijwett. Wie in allen Familien mussten die 5 Kinder während des ganzen Jahres, besonders jedoch zur Erntezeit kräftig mit anpacken. Das brachte ihnen nicht immer Freude. War die Ernte jedoch gut ausgefallen, konnten sie sich auf ein Weihnachts-geschenk freuen. Sonst gab es nur die üblichen Gaben aus dem hauseigenen Garten. Äpfel und Nüsse eben. Meine Mutter, Maria Terhorst, schwärmte immer von den Fertigkeiten ihres ältesten Bruders Hein. Er war der Geschickteste beim Schlitzen der Mittelrippen und konnte  dabei auch noch die besten Geschichten erzählen. Mein Vater, Wilhelm Miesen, stammte aus einer Nicht-Tabak-Anbau-Familie. Er wurde aber selbstverständlich bei der Ernte eingesetzt. Er tat dies wohl mit geringer Begeisterung.

Vor allem die erste Ernte der unteren Erdgut- Blätter war wohl sehr anstrengend. Zumal diese ausgerechnet jährlich am ersten Tag nach dem höchsten Dorffest, der Wisseler Kirmes, angesetzt wurde. Dann fiel das Bücken besonders schwer. Und außerdem geben die Tabakblätter eine klebrige, schwarze Schmiere ab, die sich nur schwer  von den Händen und der Kleidung entfernen lässt. Der Verkauf der Ware erfolgte bis zum Jahr 1885 an Zwischenhändler wie z.B. Alexander und Gerhard Peerenboom, die den Tabak an Manufakturen und Fabriken weiterverkauften.

Bei diesem Handel diktierten die „Koopmannen“ weitestgehend die Preise und machten das bessere Geschäft. Im Jahr 1920 gründeten daher die niederrheinischen Tabakanbauer den „Niederrheinischen Tabakverein“ mit Sitz in Bislich und einigen Ortsverbänden in größeren Anbauorten. Mit dem größeren Angebot und gemeinschaftlichen Fermentieren* des Rohtabaks erzielten die Pflanzer nun bessere Erlöse. Die neuen Preise waren einigen Wisseler Pflanzern nicht hoch genug. Sie gründeten daher eigene Genossenschaften. Um 1890 existierten in Wissel die Genossenschaften Biermann, die bis 1925 registriert ist, und Stöckeling, die bis  bis zum Ende  des Tabakanbaus im Jahr 1959 Bestand hatte. Ab 1920 mussten auch die 12 Mitglieder ihren Tabak auf einer staatlich einheitlichen Versteigerung (Einschreibeverfahren) verkaufen. Während des Dritten Reiches wurden die Preise vereinheitlicht. Ab 1945 kontrollierten die Besatzungsmächte den Anbau, später das Staatliche Zollamt.

Trotz aller strengen Kontrollen ließen sich die Wisseler Pflanzer einiges einfallen, diese zu hintergehen. Sie richteten sich geheime Verstecke ein, in denen sie die Tabakbündel vor den Besatzern verbargen. Nach dem Krieg schafften sie es, die zuvor vom Zoll errechnete Erntemenge zu ihren Gunsten zu manipulieren. Ein weiteres Mittel, um sich eine „zweite Währung“ zu schaffen, war das geschickte Beladen der LKW. Durch einen gezielten Wurf schaffte manch ein Tabakbündel den Weg, nachdem es beim Ortsverband an der Kemnadestraße gewogen war, über die Ladefläche hinweg in den durch eine Mauer abgetrennten Garten der Familie van Elsbergen. Dort warteten schnelle Hände darauf die Bündel in Sicherheit zu bringen. So konnten sich die Pflanzer in den schwierigen Nachkriegsjahren ein Zubrot schaffen. Die gebeutelte Stadtbevölkerung des nahen Ruhr-gebiets kam in Scharen aufs Land, um sich mit Nahrungsmitteln und Tabak einzudecken.

Das Ende der langen Zeit des Tabakanbaus zeichnete sich bereits im Jahr 1957 ab. Alarm im Dünendorf – Gibt Wissel den Tabak-anbau auf?“, titelte dann die Rheinische Post am  12.02.1958. Der Wirtschaftsaufschwung war auch auf dem Lande angekommen. Neue Arbeitsplätze in der Industrie brachten der Landbevölkerung ein besseres Ein-kommen. Zudem machte der Verfall der Preise für Rohtabak den Anbau unrentabel. Zwei weitere Jahre sollte noch auf einigen Feldern der im Zweiten Weltkrieg einge-führte Havanna 2c wachsen.

[Am  30. 09. 1960 hieß es dann in der Rheini-schen Post: „Erntekranz ohne Tabakstaude. Tabakdorf am Niederrhein bricht mit jahrhunderter alter Tradition- Es lohnt  nicht mehr.“]

(*Durch Stapeln des Tabaks erhitzt sich dieser auf 40 0Celsius und erhält ein besseres Aroma. Die Dauer des Prozesses beträgt 35 bis 40 Tage.) 

Wissel das Dünendorf

Das Dorf und das heutige – Flora Fauna Habitat – Naturschutzgebiet bilden seit einigen Jahrhunderten eine schicksalhafte Einheit. Dabei begann für die Bewohner Wissels alles mit einer Naturkatastrophe. Im 13. Jahrhundert, zu einer Zeit, als der Rhein  die kleine Ansiedlung im Südwesten in einem Bogen umfloss, kam es in niederschlagsreichen Jahren zu enormen Hochfluten, bei denen  riesige Sandmassen im Innenbogen des Flusses angeschwemmt wurden. Dabei begruben sie fruchtbare Äcker und Häuser ebenso wie Hab und Gut der Menschen unter sich. Den Sand nahmen die vorherrschenden Westwinde auf und türmten ihn, vor allem in den niederschlagsarmen Jahren um 1500, zu hohen Dünen auf. Die Dünenfelder wurden jahrzehntelang weiter verweht und umgelagert, bis sie am Ende des 16. Jahrhunderts an der heutigen Stelle zum Stillstand kamen. Erste Flechten und Moose siedelten sich auf dem kargen Boden an und bildeten mit Silbergras und Sandsegge den so genannten Sandtrockenrasen. Nach und nach entwickelten sich humusreichere Abschnitte, auf denen sich weitere Gräser und Kräuter ansiedelten.

Schon früh nutzten die Dorfbewohner das karge Dünengelände als Gemeindeweide (Allmende) und beeinflussten dadurch die Vegetation und das Landschaftsbild entscheidend. Markante Weißdornsträucher, Wildrosen und Schlehdorngebüsche zeugen noch heute von der histo-rischen Weidenutzung, da nur bewehrte Dornsträucher dem Viehverbiss auf Dauer standhalten konnten. Sie trugen dazu bei, dass das Vieh auf natürlichem Wege eingezäunt blieb.

Während vielerorts die Flusssanddünen eingeebnet und für immer verloren sind, stellten sich in den dreißiger Jahren Naturkundler und Heimatfreunde gegen solche Pläne der Behörden. Sie setzten sich dafür ein, die malerische Land-schaft mit  seiner einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt zu schützen.

Am 24.08.1935 wurden die  Wisseler Dünen als erstes Naturschutzgebiet im damaligen Kreis Kleve ausgewiesen. Trotzdem ebnete der Reichsarbeitdienst* wenig später den zentralen Teil ein. Sie schufen einen Segelflugplatz für die Hitlerjugend, auf dem während des Krieges junge Piloten ausgebildet wurden.

Wissel am See

Seit 1932 wird rund um Wissel ausgekiest. In den 60er Jahren zogen die neuen Wasserflächen hunderte Bade- und Campingfreunde aus Nah und Fern an. Der Kreis Kleve beschloss daher ein Freibad mit einem Campingplatz zu errichten. Am 18. März 1964 stimmte der Gemeinderat Wissel unter Führung des frisch gewählten Bürgermeisters Anton Heuken dem Bebauungsplan zu. Der Kreis übernahm das 5,6 ha große Gelände und schuf einen Badestrand mit Liegewiesen für ca. 8000 Badegäste und einen 2,5 ha großen Campingplatz. Gebäude mit Sanitäranlagen, in denen sogar Steckdosen für Trockenrasierer zur Verfügung standen, 14 Kochstellen mit Doppelplatten und Umkleideräumen entstanden in kurzer Zeit. Die Feuerwehr Wissel leistete durch die regelmäßige Berieselung der von Gärtner Oenings eingesäten Rasenflächen ihren Beitrag zur Schaffung der „Erholungsstätte Wisseler See“. Am 01.07.1965 übergabt Landrat Brock offiziell das Erholungsgebiet seiner Bestimmung.

Es dauerte nicht lange, da platzte das Gelände aus allen Nähten. Viele Tausend Besucher suchten Sommer für Sommer Erholung am Wisseler See. Daher wurde im Winter 1971/72 das Freibad an die nordöstliche Seite des Campingplatzes verlegt und im großen Stile erweitert, die alte Badebucht zu Dauerstellplätzen für Camper parzelliert. Das neue großflächige Naturfreibad, ausgestattet mit Sanitär-gebäuden und Kiosk, zog in den Folgejahren abertausende Besucher an und machte das Dorf Wissel im weiten Umkreis bekannt. Der Platz wuchs zu einer eigenständigen Siedlung mit eigener kultureller Infrastruktur heran.

Wir Wisseler nannten es „En Derp för sich“. Das „Dorf“ zählte während der Sommermonate wesentlich mehr Camper als Wissel Einwohner!  Deren Kontakt zu uns Dorbewohnern blieb zunächst aus. Das änderte sich erst zögerlich als die Camper einen eigenen Fußballclub gründeten und ab und an gegen die Wisseler kickten. Einige Kicker aus dem Ruhrpott schlossen sich sogar der Altherrenmannschaft des Dorfes an. Bei öffentlichen Festen, wie der unvergessenen, alljährlichen Lampion- Bootsfahrt sorgten die Wisseler für die passende Musik. Beim Feiern kamen Städter und Dörfler sich allmählich näher.

Bei der Verwirklichung des Planes zur Errichtung des neuen Freibades wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Selbst die Umsiedlung zweier Familien nahm man in Kauf.